Das Ende einer Ära
Hans Christoph Becker-Foss‘ vorerst letztes Hamelner Oratorienkonzert mit Werken von Duruflé und Reger
Hameln. Da war er nun, dieser Schlussakkord, der zwischen großem D und dreigestrichenem fis über vier Oktaven reichende D-Dur-Dreiklang. Nicht unerwartet, aber schmerzlich. Markierte er doch unabänderlich nicht nur das Ende von Max Regers 100. Psalm, sondern zugleich das eines 37 Jahre währenden Zeitabschnitts blühender Kirchenmusikgeschichte Hamelns. Eine Zeit, in der die wichtigsten kirchenmusikalischen Kompositionen der vergangenen vier Jahrhunderte vor Ort aufgeführt wurden. Eine Zeit, in der die Hamelner Kantorei und das Göttinger Vokalensemble unter der Führung von Hans Christoph Becker-Foss stetig an den ihnen gestellten Aufgaben weit über das hinauswuchsen, was Laienchöre normalerweise erreichen können.
Und nun Duruflés Requiem in Verbindung mit Regers 100. Psalm. Gegensätze, die sich auf harmonischen Ebenen treffen und ergänzen. Die teilweise noch vom Impressionismus geprägte, zuweilen schleierhaft mystische Klangwelt des Franzosen nähert sich auch noch im Entstehungsjahr des Requiems, 1947, deutlich zögerlicher der Atonalität, als der ältere Fast-Zwölftöner Reger, der seine Chorsänger mit kompromisslosen Schichtungen chromatischer Linien vor gewaltige Aufgaben stellt. Was dann in unzureichender Wiedergabe dazu führen kann, so manchen Musikfreund dauerhaft zu verschrecken.
Anderes war am Sonntagabend in Hamelns Marktkirche zu erleben. In der makellos klangschönen, noch durch 14 Mitglieder des Berliner Kammerchors verstärkten Wiedergabe entfalteten sich die zahlreichen harmonischen Nuancen von Duruflés Werk in perfekter Dynamik. Gleichmäßiger kann ein in die Tonlosigkeit absinkendes Decrescendo nicht gesungen werden, und weicher ein Fortissimo in hohen Lagen nicht klingen. Eine Bravourleistung, die unter der Leitung von Becker-Foss von geistiger Durchdringung gestützt und getragen gleichermaßen ergriff, beglückte und überzeugte. Das gilt genauso auch für Regers zwischen den beiden Chorwerken erklingende Hölderlin-Vertonung „An die Hoffnung“, die Wiebke Lehmkuhl in eindringlicher Interpretation und mit ihrer zum Niederknien schönen Altstimme zum besonderen Erlebnis werden ließ.
Hohen Anteil an der komplexen Substanz dieses insgesamt außerordentlichen Konzerts hatten auch die Jenaer Philharmoniker, die im Rahmen der Kirchenkonzerte schon zum 20. Mal mit brillanten Bläsersoli, in sich klangschön austariertem Streicherchor und virtuos traktiertem Schlagzeug aufwarteten. Sie halfen, dem Endpunkt einer Ära besonderen Glanz zu verleihen und ihn zum Geschenk auch für die Hörer zu machen.
„Muss es sein?“ Am Ende seiner Oper legt Hindemith dem in „reifem Herbst“ aus seinem Amt scheidenden Mathis beim Einpacken seiner Habseligkeiten folgende Worte in den Mund: „Was ich an Gutem übte, was ich erstrebte, was ich erschuf, was mir an Ehren ward, was mich bedrängte“ – und zuletzt: „was ich liebte“. Für Becker-Foss war dies seit Jahrzehnten der 100. Psalm in Regers Tonsprache. Deshalb: Ja, es musste sein! Und es war ein Glück.
Autor: Karla Langehein, erschienen in: DEWEZET.de am 23.03.2015